Ein Fehler im Scheidungsvertrag stürzte einen Lehrer in den finanziellen Ruin und trieb seine Kinder in psychiatrische Behandlung. Alle Versuche, die Situation zu verbessern, sind bisher gescheitert.
Sind die Kinder zu Besuch, merkt Thomas Müller erst richtig, dass sich sein Leben in ein endloses Siechtum verwandelt hat. Jedes zweite Wochenende verbringt er mit den beiden Töchtern (12 und 7) und dem Sohn (10). Doch die Zeit reicht nicht aus, um zu erfahren, was sie wirklich beschäftigt.
Der 40-Jährige, dessen Name hier geändert ist, kann auch nicht das machen, was geschiedene Väter üblicherweise tun: den Kindern etwas Besonderes bieten. Etwa einen Ausflug ins Verkehrshaus Luzern. Das günstige Angebot von 80 Franken (inklusive Bahnticket), das er kürzlich in einer Zeitschrift sah, war zu teuer. In der Badi muss er rechnen, ob er es sich leisten kann, den Kindern Glaces zu kaufen. Wenn sie am Sonntagabend zur Mutter zurückkehren, «ist das jedes Mal wie sterben», sagt er.
Ihm bleiben 300 Franken
Thomas Müller verdient als Lehrer netto 5300 Franken (alle Zahlen gerundet). Aber Müller ist arm dran: Der Scheidungsvertrag verpflichtet ihn zu Unterhaltszahlungen von 4000 Franken an die Ex-Frau, die während der Ehe nicht erwerbstätig war, und die Kinder. Weil man mit 1300 Franken im Monat nicht leben kann, hat er seit der Scheidung vor drei Jahren Schulden in der Höhe von 40 000 Franken angehäuft. Kürzlich haben ihm die Behörden 1000 Franken von seinem Lohn gepfändet, damit er so die Schulden tilgt. So bleiben ihm 300 Franken: für Wohnen, Essen, Kleidung, Berufsauslagen – und die Wochenenden mit den Kindern.
Der Fall ist grotesk, und doch sind bisher alle Versuche gescheitert, etwas zu ändern, auch vor Gericht.
Brutto statt netto
Müllers Siechtum begann am Tag, an dem er den Scheidungsvertrag unterschrieb. Seine Frau wollte nicht mehr mit ihm leben. Nachdem die Ehetherapie bei wechselnden Fachpersonen nichts gebracht hatte, willigte er ein, «die Kapitulationserklärung» zu unterschreiben, wie er sagt. Er tat es gegen den Rat seines damaligen Anwalts. Müller war wie ein Nichtschwimmer, der in den See springt und erst dann erkennt, dass er ertrinkt.
Ein Detail im Scheidungsvertrag – die Verwechslung von brutto und netto – hat ihn in den Ruin getrieben: Bei der Berechnung der Unterhaltspflicht in der Höhe von 4000 Franken ging man von einem Nettolohn von 6300 Franken aus. Tatsächlich ist dies jedoch Müllers Bruttolohn. Für Wohnen, Essen, Versicherungen und Berufsauslagen stünden ihm eigentlich 2300 Franken zu.
Warum unterschrieben?
Der Vertrag zwingt ihn, seine Unterhaltspflichten zu vernachlässigen. Der Anwalt seiner Ex-Frau reichte deswegen bald einmal eine Strafanzeige ein, die zur Lohnpfändung führte.
Warum hat Müller den Scheidungsvertrag überhaupt unterschrieben? Im Gespräch wirkt er vernünftig und doch nicht ganz wach. Müller selber erklärt seine Zustimmung mit der damaligen Situation: Er war wegen der ständigen Ehestreitigkeiten am Ende seiner Kräfte und bezog während anderthalb Jahren IV-Taggelder. Die Diagnose: Burn-out. «Ich wollte nur noch, dass es vorbei ist. Und ich hatte Angst, die Kinder nicht mehr zu sehen.»
In Stein gemeisselt
Eigentlich hätte der Richter, der den Scheidungsvertrag genehmigte, einschreiten müssen. Sind Vereinbarungen nämlich «offensichtlich unangemessen», müssen sie überarbeitet werden. So zumindest steht es im für die Rechtslehre massgebenden Kommentar von Ingeborg Schwenzer, einer Spezialistin im Scheidungsrecht.
In der Praxis jedoch prüfen Gerichte Scheidungsverträge oberflächlich, wie die neue Anwältin von Thomas Müller sagt. Vor allem dann, wenn die Eheleute ihre Zustimmung gegeben haben. Der zuständige Richter wollte sich gegenüber dem «Tages-Anzeiger» nicht äussern, mit der Begründung, er sei an das Amtsgeheimnis gebunden.
Faktisch in Stein gemeisselt
Dass Scheidungsverträge faktisch in Stein gemeisselt sind, bekommt Müller schmerzhaft zu spüren. Eine Klage mit der Begründung, er sei damals ausgebrannt und daher vermindert zurechnungsfähig gewesen, schätzt seine Anwältin als aussichtslos ein.
Statt den offensichtlichen Fehler direkt einzuklagen, wählte Müller einen Umweg: In seiner Verzweiflung wollte er die Unterhaltspflicht an seine Ex-Frau aus dem Vertrag streichen lassen. Genau die 1000 Franken, die monatlich an sie gehen, fehlen ihm nämlich zum Existenzminimum. Doch dieser Weg führte lediglich in eine Sackgasse: Er blitzte vor Gericht ab, weil ohne dieses Geld die Ex-Frau nicht leben könnte.
Depressive Mutter
Was Müller bleibt, ist die Hoffnung auf das Sorgerecht über die Kinder. Er würde sein Pensum reduzieren, wäre aber von den Alimenten befreit. Und er könnte sich die Betreuung der Kinder mit seiner neuen Frau teilen, einer Kindergärtnerin, die er vor rund einem Jahr geheiratet hat.
Der Entscheid über das Sorgerecht liegt jetzt beim kantonalen Obergericht. Bis zum Urteil sind weitere Klagen gegen die Scheidungskonvention sinnlos, denn die Frage des Sorgerechts ist mit derjenigen der Unterhaltspflicht gekoppelt. Und so lange muss Müller zahlen wie bisher.
Kinder leben in einem Heim
Der Bezirksrichter, der schon den Scheidungsvertrag genehmigt hatte, stand auf der Seite der Mutter. In einer superprovisorischen Verfügung bestätigte er ihr das Sorgerecht, obwohl sie wegen Depressionen und Drohungen, sich mit den Kindern in einen Fluss zu stürzen, Monate in einer Klinik verbringen musste. Die Kinder lebten mehr als ein Jahr lang in einem Heim.
Der Bezirksrichter stützte sich bei seinem Entscheid auf den Bericht des Therapeuten von Müllers Ex-Frau: Die Mutter könne die Betreuung der Kinder wieder übernehmen. Ganz anders sah dies die Vormundschaftsbehörde: Die Mutter habe kein Erziehungskonzept und biete keine Gewähr für eine «adäquate psychische und physische Entwicklung der Kinder», heisst es in ihrem Bericht. Die Behörde empfahl deshalb, die Kinder so lange im Heim zu belassen, bis der Vater psychiatrisch begutachtet worden ist. «Sollte seine Erziehungsfähigkeit gegeben sein, sollen die Kinder dem Vater zugewiesen werden.»
Kinder haben Störungen und Probleme
Heute kümmert sich eine Schar von Therapeuten und Sozialpädagogen um sie. Besonders die beiden Töchter leiden unter den Folgen der Scheidung: die 10-jährige unter Atemnot und Essstörungen, die 12-jährige unter einem «sexuell motivierten Nähe- und Distanzproblem», wie die Vormundschaftsbehörde schreibt. Sie berühre andere im Intimbereich.
Das kantonale Obergericht lässt derzeit die Erziehungsfähigkeit beider Elternteile abklären. Wie lange es bis zum Entscheid über das Sorgerecht dauern wird, ist offen. Doch für Thomas Müller drängt die Zeit. Er weiss nicht, wie er die Mahnungen und Betreibungen zahlen soll. Seine neue Frau ist gesetzlich verpflichtet, ihn zu unterstützen. Doch auch sie wird von der Schuldenspirale erfasst: Um dringende Rechnungen zu begleichen, musste sie sich jüngst 4000 Franken bei Freunden leihen.
Zweite Scheidung?
Sollte es so weitergehen, wollen sich die beiden scheiden lassen: Damit nicht auch noch seine neue Frau in den Ruin getrieben wird. Weil sie befürchten, dass dies vor Gericht nicht als Scheidungsgrund anerkannt würde, wollen sie anonym bleiben.
Vor ein paar Tagen hat die Heimleitung Thomas Müller daran erinnert, dass er die Kosten von 25000 Franken für den Aufenthalt der Kinder noch nicht bezahlt hat. Er wurde aufgefordert, Vorschläge für einen Rückzahlungsmodus zu machen.
Autor: Dario Venutti